S-Bahn Berlin: Showdown vor dem Kammergericht – Streit um Zukunft des Berliner Nahverkehrs
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19.2.2024 von Peter Neumann - Für die Steuerzahler geht es um viel: Richter befassen sich mit der S-Bahn-Ausschreibung. Berlin und Brandenburg wollten die Öffentlichkeit ausschließen.
Es geht um die Zukunft der Berliner S-Bahn. Und es geht um viel Geld – um sehr viel Geld. Die Aufträge, die Berlin und Brandenburg bei dieser Ausschreibung zu vergeben haben, summieren sich bereits jetzt auf rund zwölf Milliarden Euro. An dem bisher größten Vergabeverfahren der Berliner Verkehrsgeschichte gibt es allerdings Kritik. Ermöglicht es einen echten Wettbewerb? Wenn sich das Kammergericht am Freitag damit befasst, ist ihm das Interesse der Öffentlichkeit gewiss. Doch wie die Berliner Zeitung erfuhr, wollten Berlin und Brandenburg Zuhörer lieber ausschließen lassen.
Vergabeverfahren S-Bahn, Teilnetze Nord-Süd und Stadtbahn: Darum geht es am 23. Februar, 10 Uhr, im Saal 449 des Kammergerichts am Kleistpark. Das Thema hört sich zunächst ziemlich trocken an. Juristen tauschen viele Tausend Seiten Schriftsätze aus, Kaufleute rechnen, Fahrzeugingenieure planen. Doch das, womit sie sich befassen, wird sich auf den Alltag vieler Millionen Menschen auswirken. Es geht um das nach der U-Bahn zweitwichtigste Verkehrssystem der Hauptstadtregion – und um dessen Fahrgäste.
Wer baut die neuen S-Bahn-Züge für Berlin und Brandenburg, und wer hält sie in Schuss? Mindestens 1400 S-Bahn-Wagen werden benötigt. 165 Vier-Wagen-Züge sollen im Teilnetz Stadtbahn eingesetzt werden, auf den Nord-Süd-Linien ist ein Minimum von 185 Vier-Wagen-Zügen geplant. Hinzu kommen Optionen für bis zu 936 weitere Wagen. Es geht um eine gewaltige Flotte, mit der die S-Bahn erneuert werden soll.
Die nächste wichtige Frage lautet: Wer wird die neuen S-Bahnen 15 Jahre lang betreiben? Sie sollen auf elf Strecken eingesetzt werden – darunter die Linien S1, S2, S3, S5, S7 sowie S9. Es geht um zwei Drittel des S-Bahn-Netzes.
Doch die bislang größte Ausschreibung im Nahverkehr der Region betrifft nur die Reisenden, die zuverlässige und bequeme S-Bahnen bekommen sollen. Es geht natürlich auch um wirtschaftliche Interessen. Die Deutsche Bahn (DB), deren Tochterunternehmen S-Bahn Berlin bislang alle Strecken betreibt, möchte im Geschäft bleiben. Die Fahrzeughersteller Siemens und Stadler wollen auch die nächste S-Bahn-Generation bauen – möglichst auf Grundlage der Baureihe 483/484, die sie zuletzt geliefert haben. Doch es gibt noch einen anderen Akteur. Hier kommt Alstom ins Spiel.
Der französische Schienenfahrzeughersteller, dessen Ableger Alstom Germany in Hennigsdorf nordwestlich von Berlin ein großes Werk betreibt, würde gern zumindest einen Teil der neuen S-Bahn-Flotte bauen. Nachdem das Unternehmen bei mehreren Ausschreibungen leer ausging, möchte es etwas haben vom großen Nahverkehrskuchen.
Doch der Hersteller geht davon aus, dass er bei dem Vergabeverfahren schlechte Karten hat. Denn anders als die Konkurrenten Siemens und Stadler, die sich gemeinsam mit der S-Bahn Berlin GmbH an der Ausschreibung beteiligen wollen, konnte Alstom offenbar keine feste Kooperation mit einem Zugbetreiber eingehen. Das französische Verkehrsunternehmen Transdev hat sich dem Vernehmen nach zurückgezogen, Gespräche mit Netinera führten angeblich bisher nicht zu einer Zusammenarbeit.
Alstom fühlt sich bei der großen S-Bahn-Ausschreibung benachteiligt
Beobachter erwarten also, dass sich Alstom anders als die Konkurrenz allein an der S-Bahn-Ausschreibung beteiligen muss. Angesichts des einzigartigen Designs, das dieses Verfahren erhielt, könnte dies aber die Chancen des Unternehmens schmälern. Denn dieses Design bevorzuge Bietergruppen, denen sowohl Hersteller als auch Zugbetreiber angehören, so die Kritik. Wer sich wie Alstom solo bewirbt, könne sich kaum Chancen ausrechnen, sofern nicht doch noch zufällig ein Zugbetreiber ein Komplementärangebot unterbreitet und damit Erfolg hat. Selbst wenn das Alstom-Angebot für die neuen S-Bahn-Fahrzeuge das wirtschaftlichste wäre: Ohne Partner würde es nichts nützen.
Hinzu kommt, dass Siemens beim Zugsicherungssystem ZBS, das die Deutsche Bahn auf den Strecken der Berliner S-Bahn einsetzt, ein Monopol besitzt. Ein weiterer Vorteil, den die Alstom-Konkurrenz für sich verbuchen kann.
Der Deutschland-Ableger von Alstom beantragte im Juni 2021 eine Nachprüfung bei der Vergabekammer, die bei der Senatsverwaltung für Wirtschaft angesiedelt ist. Ende Oktober 2022 wurde der Antrag zurückgewiesen. Kurz darauf legte Alstom beim Kammergericht, dem Berliner Oberlandesgericht, sofortige Beschwerde gegen die Länder Berlin und Brandenburg ein. Darüber soll am Freitag erstmals verhandelt werden (Aktenzeichen Verg 11/22). Wenn das Gericht nicht im Sinne von Alstom entscheidet, erwägt der Hersteller, die nächsten Instanzen anzurufen: den Bundesgerichtshof und danach den Europäischen Gerichtshof. Das ist in Unternehmenskreisen zu hören.
„Verschlossene Auster“: So heißt der Negativpreis, den das Netzwerk Recherche jährlich an Institutionen vergibt, die Informationen blockieren. Es ist eine Trophäe, die den Beteiligten des Berliner S-Bahn-Verfahrens mit Fug und Recht zustünde. Keiner von ihnen äußert sich in der Öffentlichkeit substanziell. Dazu geht es einfach um zu viel Geld, und um Regeln, über deren Einhaltung jede Seite aufmerksam wacht. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sollen gewahrt bleiben.
Müssen Steuerzahler mit Mehrkosten rechnen?
Dies ist dem Vernehmen nach auch der Hintergrund für den Schachzug, zu dem Berlin und Brandenburg angesetzt haben. Nach Informationen der Berliner Zeitung beantragten sie Anfang Februar 2024, die Öffentlichkeit von der Gerichtsverhandlung am Freitag auszuschließen. Angeblich befürchteten die Rechtsanwälte, dass der ohnehin schon lädierte Grundsatz des Geheimwettbewerbs weiter Schaden nähme, wenn Medien und andere Interessierte im Gericht zuhören dürften. Zu viel sei schon an die Öffentlichkeit gekommen. Bei der Verhandlung könnte bestätigt werden, in welcher Konstellation die Bieter antreten: Alstom allein, Siemens, Stadler und die DB zusammen.
Doch es gibt offenbar noch eine andere Befürchtung: dass bei der Gerichtsverhandlung klar werde, dass das Vergabeverfahren nicht funktioniere, weil es keinen echten Wettbewerb vorsehe – sodass die Steuerzahler mit erheblichen Mehrkosten rechnen müssten. Denn wenn letztlich nur ein Konsortium Chancen hat, die Aufträge der Länder zu bekommen, könnte diese Bietergruppe mangels ernsthafter Konkurrenz die Preise nach oben treiben – insgesamt um Milliarden. Kein Wunder, dass die Europäische Kommission das S-Bahn-Vergabeverfahren aufmerksam verfolgt.
Dem Vernehmen nach wurde der Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit nach sechs Tagen aber wieder zurückgenommen. Warum die Bremer Anwaltskanzlei, die Berlin und Brandenburg vertritt, dies tat, bleibt unklar. „Da es sich bei dem Nachprüfungsverfahren um ein laufendes gerichtliches Verfahren vor dem Kammergericht handelt, kann hierzu keine Auskunft gegeben werden“, sagte Constanze Siedenburg, Sprecherin von Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU). „Wir bitten um Verständnis.“ Ein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit liege derzeit nicht vor, so das Gericht.
Berliner Fahrgastverband befürchtet: Droht eine neue S-Bahn-Krise?
Beobachter fragen sich, wie das Kammergericht nun vorgeht. Konzentriert es sich auf die Zulässigkeit der Beschwerde – mit der möglichen Folge, dass Alstom schon bei der formalen Prüfung scheitert? Oder kommt es tatsächlich dazu, dass der Vergabesenat mit der Vorsitzenden Richterin Cornelia Holldorf untersucht, ob die Beschwerde begründet ist? Dann müsste sich das Gericht dazu äußern, ob das einzigartige, ungewöhnliche Design des Vergabeverfahrens rechtmäßig ist – oder zumindest teilweise nicht.
Dann wäre auch nicht ausgeschlossen, dass nachgearbeitet werden müsste, was den Zeitplan weiter ins Wanken brächte. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB), der die Länder betreut, musste die Frist zur Abgabe der verbindlichen Angebote schon mehrmals verschieben – zuletzt auf den 28. März, 12 Uhr. Nach jetzigem Stand soll im September 2024 entschieden werden, wer die Ausschreibung gewonnen hat.
Das Kammergericht in Schöneberg: Hier wird am 23. Februar in Saal 449 über die Ausschreibung verhandelt. Rolf Kremming/imago
Folge der Korrekturen war, dass auch die Termine für die erwartete Inbetriebnahme der neuen S-Bahnen nach hinten geschoben werden mussten. Der aktuelle Zeitplan sieht vor, dass die ersten Züge für das Teilnetz Stadtbahn erst für den 4. März 2030 kommen werden. Zunächst soll die Linie S9 damit ausgestattet werden. Ab dem 21. Mai 2035 sollen dann alle fünf Ost-West-Linien über neue Züge verfügen. Im Teilnetz Nord-Süd soll die Lieferung am 11. Juni 2030 losgehen – insgesamt 30 Monate später als anfangs geplant.
Unter der damaligen Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) wurde das Vergabeverfahren 2020 gestartet. Die Grünen wollten so viel Wettbewerb wie möglich, neue Anbieter sollten eine Chance bekommen: Das sei die Lehre aus der S-Bahn-Krise, die das Bundesunternehmen DB der Region 2009 beschert hatte, hieß es. Doch nicht nur viele S-Bahner und die Gewerkschaft EVG lehnen eine Aufspaltung ab, auch die SPD will eine „S-Bahn aus einer Hand“. Eine „Privatisierung“ sei abzulehnen, sagt die Linke. Die konträren Ziele trugen dazu bei, dass das Vergabeverfahren immer komplexer wurde.
Beobachter fürchten nun weitere Verzögerungen. Der Fahrgastverband IGEB warnt vor Fahrzeugengpässen und einer neuen S-Bahn-Krise, wenn die älteren Züge nicht mehr so lange durchhalten, bis die neuen Wagen kommen. Wie berichtet, hat sich die Berliner SPD für eine Notbeschaffung ausgesprochen. Die Baureihe 480 werde bis 2032 ausgemustert, dann müsse Ersatz her. Doch Experten sehen keine Rechtsgrundlage.
Im August wird die Berliner S-Bahn 100 Jahre alt
In diesem Jahr wird die Berliner S-Bahn 100 Jahre alt. Am 8. August 1924 war zum ersten Mal ein Gleichstromzug mit Fahrgästen unterwegs, vom damaligen Stettiner Vorortbahnhof an der Invalidenstraße in Mitte nach Bernau. Es ist ein Jubiläum, das wichtig für die Region ist. Der Senat, der Verein Historische S-Bahn und das Berliner S-Bahn-Museum haben angekündigt, sich an den Festivitäten zu beteiligen. Doch den Chefs der S-Bahn Berlin GmbH und anderen Beteiligten ist derzeit nicht nach Feiern zumute. Sie setzen alles daran, beim Vergabeverfahren einen Erfolg zu erringen.