Comedy-Show in Berlin: Russlands Stefan Raab und die Sehnsucht nach der schönen unbeschwerten Zeit
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4.6.2024 von Nicolas Butylin - Zwei russische Star-Comedians treten im Rahmen ihrer Europatournee in Berlin auf. Bei vorherigen Shows kam es zu Protesten. Wir waren vor Ort am Potsdamer Platz.
Wer von den Zuschauern im famosen Theater am Potsdamer Platz dachte, es werden hier zwei Stunden lang nur russische Witze über Deutschland gerissen, der irrte. Angesprochen auf sein Verhältnis zu Deutschland sagte der 90-jährige Wladimir Posner auf der Bühne: „Mein Vater sagte mir damals, 1949 in Ostberlin, dass Nazismus das eine gewesen sei – die große Geschichte der deutschen Literatur, der deutschen Poesie und der deutschen Wissenschaft aber was ganz anderes seien.“ Das habe Posners Vater nur wenige Jahre nach dem deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gesagt; sein Deutschland-Bild haben diese Worte nachhaltig geprägt.
Den stillen Moment im Saal unterbricht der fast 50 Jahre jüngere Iwan Urgant, eine Art „russischer Stefan Raab“, wie immer sehr gekonnt und fragt, wann Posner sich mal wieder im KaDeWe blicken lasse – einer dieser dekadenten „reiche Russen-Witze“, der für Gelächter unter den Zuschauern sorgt. „Die Reise von Posner und Urgant“, eine Show zweier erfolgreicher Moderatoren aus Russland machte am Montag auch in Berlin Halt. Und sorgte unter den Gästen für ein Wechselbad der Gefühle.
Auftritt sorgte für Kontroversen
Mal sprechen Urgant und Posner über den Krieg – also den Zweiten Weltkrieg –, dann lacht das Publikum über einen Seniorenwitz auf Kosten Posners. Später folgt eine Kontroverse, welcher Flughafen für Russen derzeit der beste sei, um im Zuge der Sanktionen nach Europa zu gelangen – am Ende entscheiden sich beide für Istanbul –, gefolgt von einer regen Diskussion welcher Wein schlimmer schmeckt: Der aus den Niederlanden, aus der Schweiz oder die Sorte aus Deutschland? Die beiden russischen TV-Stars trinken nämlich während ihrer Live-Shows immer eine Flasche Rotwein, die aus dem Land kommt, in dem sie gerade auftreten. In der vergangenen Woche waren Urgant und Posner in Zürich, davor in Amsterdam. Dort kam es übrigens zu regelrechten Protesten vor Beginn der Show.
thread 1/x Vladimir Pozner and Ivan Urgant had a show in Amsterdam. Although the show was not about the war there was outrage in the Netherlands and among Ukrainians in the Netherlands because Pozner is known for his Russian propaganda. pic.twitter.com/mMM69fPA02 — Robert van der Noordaa (@g900ap) June 1, 2024
So versammelten sich proukrainische Aktivisten vor dem Konzertsaal in der niederländischen Metropole und protestierten gegen den Auftritt der beiden Russen, die bis vor wenigen Jahren noch ihre eigenen Sendungen im russischen Staatsfernsehen hatten. „Schämt euch“ und „Russen, geht nach Hause“, hieß es von den Aktivisten in Amsterdam. Der Vorwurf: Posner und Urgant verbreiten russische Propaganda. Die englischsprachige Moscow Times berichtete darüber.
Der Auftritt der beiden russischen Entertainment-Schwergewichte sorgt in unserem Nachbarland sogar für politische Schlagzeilen. Niederländische Abgeordnete fordern nun eine Stellungnahme des Außenministeriums in Den Haag. Die Show untergrabe „europäische Ambitionen im Kampf gegen die Verbreitung russischer Propaganda“, so die Kritik.
Urgant – Pionier der amerikanischen Late-Night-Shows in Russland
In Berlin ist die Show weitaus weniger politisch aufgeladen. Am Montagabend steht keine Menschenseele vor dem Theater am Potsdamer Platz und wedelt mit der ukrainischen Fahne oder fordert ein Verbot der russischen Comedy-Show. Anja, eine Deutsch-Russin, die schon über eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung im Foyer steht, will einfach mal wieder lachen. „Auch wenn einige mir da widersprechen – ich glaube, es ist gerade jetzt die Zeit auch mal wieder russische Witze zu hören“, sagt sie bei einem Gläschen Sekt.
Valeria und Sergej – aus Potsdam angereist – sind schon etliche Jahre große Urgant-Fans. „Er hat als Erstes die amerikanischen Late-Night-Shows ins russische Fernsehen gebracht“, sagt Sergej, der den aus Sankt Petersburg stammenden Urgant als eine Art Pionier der zeitgenössischen russischen Comedy bezeichnet. „In Russland waren seine Veranstaltungen immer ausverkauft, nach über 20 Jahren habe ich nun das Glück, ihn ausgerechnet in diesen Zeiten in Berlin zu sehen“, so Sergej.
Ein Begriff, der oft an diesem grauen Junimontag fällt: „In diesen Zeiten“. Konkret geht es bei diesen drei Worten natürlich um die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. Den blutigen Konflikt wollen die hier Anwesenden aber auch nicht beim Namen nennen. Der Elefant im Raum. Dabei ist das Wirken eines Iwan Urgants, einer der bis heute immer noch erfolgreichsten Komiker Russlands, keinesfalls eine klar einzuordnende Komponente „in diesen schweren Zeiten“.
Ein unmöglicher Spagat für die russische Comedy-Szene?
Jahrzehntelang war er das Aushängeschild der Comedy-Szene im geografisch größten Land der Erde. Auch ein Wladimir Putin, Urgant nannte ihn „unseren nackten König“, war vor den Witzen des russischen Komikers nie sicher. Doch seine Live-Gigs endeten abrupt. Die bis heute letzte Wetschernij Urgant-Show (zu Deutsch: Abendlicher Urgant) fand Mitte Februar 2022 statt. Wenige Tage später griffen russische Truppen über Land, Luft und Wasser die Ukraine an.
Urgant postete damals auf Instagram – wie eine Handvoll russischer Sportler oder Künstler – ein schwarzes Quadrat: „Angst und Schmerz. Nein zum Krieg“, schrieb er dazu. Er selbst sagte damals, es sei nicht die Zeit von Späßchen und Witzen. Von der regen Moskauer und Petersburger Öffentlichkeit verschwand der Comedy-Star für einige Zeit. Wie bei so vielen liberalen und westlich-orientierten Russen, die jedoch nicht ihre Heimat verließen, wurde es ruhig um Urgant. Sein Wirken steht sinnbildlich für den Umgang mit dem Krieg: Verdrängen, Schweigen, sich nicht in Gefahr bringen. Urgant äußerte sich kaum noch – weder humoristisch noch politisch.
„Wir haben Urgant so sehr vermisst, dass wir nicht anders konnten“, sagen zwei Frauen um die 50, die extra aus Dresden gekommen sind. Dabei ginge es nicht nur darum zu lachen, sondern sich in eine „schöne unbeschwerte Zeit“ fallen zu lassen. Ein Begriff fiel im gut besetzen Saal am Potsdamer Platz allerdings nicht ein Mal. Das Wort „Ukraine“.
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